Flüssig sprechen – ein erreichbares Ziel?!

Freitag, 29.09. um 14 Uhr, Gespräch mit fünf Referenten


Thilo Müller
Was »Dauerhaft-flüssig-sprechen-Wollen« für uns bedeutet ...

Akad. Sprachtherapeut (M.A.), stottert selbst und beschäftigt sich theoretisch wie praktisch schwerpunktmäßig mit Stottern bei Jugendlichen und Erwachsenen. Neben seiner Tätigkeit für die ProLog Therapie- und Lernmittel GmbH gibt er Fortbildungen zum Thema Stottern und arbeitet hauptberuflich in der LVR-Klinik Bonn, wo er Stotternde ab 14 Jahren intensiv-therapeutisch betreut. Bei der BVSS ist er seit zwei Jahren zudem in der Verlags-AG aktiv.

»Flüssig sprechen – ein erreichbares Ziel?!« Das Motto des diesjährigen BUKO trifft den Kern einer jeden Stottertherapie. Oder doch nicht ganz? Aus Sicht eines Stotternden ist ein höheres Maß an Sprechflüssigkeit einer der meistgeäußerten Wünsche zu Beginn einer Therapie. Und das ist ja auch nachvollziehbar. Eine Stottertherapie machen die aller wenigsten in erster Linie, um zu lernen mit dem Stottern zu leben. Man will es weg haben. Genauso wie der Querschnittgelähmte am liebsten seinen vermeintlich verhassten Rollstuhl loswerden will, möchte der Stotternde flüssig und unbeschwert das sagen können, was ihm durch den Kopf geht. Ohne lästige Blockierungen und Wiederholungen.

Genug »Therapien« versprechen eine dauerhaft währende Symptomfreiheit, sofern man nur lange genug übt und am Ball bleibt. Damit wird das Streben nach (zumindest äußerlich vorhandenem) Perfektionismus entsprechend bedient. Ein oftmals verhängnisvolles Ideal, das auch innerhalb unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist und als unbedingt erstrebenswert gilt. Dass aber das ständige Streben nach sprachlicher und persönlicher Perfektion den emotionalen Druck der Betroffenen nur noch weiter verstärkt, wird dabei meist vergessen.  Auch gut funktionierende Sprechtechniken haben ihre Tücken. »Schön« sprechen möchten alle gerne, aber natürlich ohne Stottern und bitte ohne mit dem neuen Sprechmuster aufzufallen!

Die Frage, ob solche Ziele überhaupt realistisch sind, oder was der Betreffende eigentlich investieren müsste, um flüssig(er) sprechen zu können, wird meiner Ansicht nach viel zu selten gestellt. Aber genau das macht eine gute Therapie aus: Nicht allein den Fokus auf Sprechflüssigkeit, sondern vor allem auf Akzeptanz und einen positiven Umgang mit der (Rest-)Symptomatik zu setzen. Das ist für mich der Kern einer (guten) Stottertherapie. Oder kennen Sie – um (natürlich leicht überspitzt) auf das Beispiel Rollstuhlfahrer zurückzukommen – eine anerkannte Physiotherapie, die querschnittsgelähmten Patienten verspricht, am Ende der Behandlung wieder eigenständig laufen zu können?



Andreas Starke
Der Fluch der Evidenz

Geboren 1944, Dipl.-Math., Master of Arts in Speech-Language Pathology, Logopäde, bis zum 32. Lebensjahr schweres Stottern, jetzt seit vielen Jahren weitestgehend flüssig, einer der Gründer der BVSS, seit 1982 Logopäde, Gruppentherapie VIERMALFÜNF seit 1987 mit insgesamt über 70 Gruppen.



Sabrina Kempf
Flüssig sprechen, flüssig stottern – was ist das Ziel?
Zielsetzung in der Logopädie

Sabrina Kempf hat ein primärqualifizierendes Studium der Logopädie (B.Sc.) sowie ein weiterführendes Studium der Therapiewissenschaften (M.Sc.) an der Hochschule Fresenius in Idstein abgeschlossen.

Als Sprachtherapeutin arbeitete sie bis 2014 in unterschiedlichen logopädischen Praxen mit dem Schwerpunkt Stimm- und Redeflussstörungen. Seit 2011 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Hochschule Fresenius Idstein mit den Lehrschwerpunkten Redeflussstörungen und Stimmstörungen im Studiengang Logopädie (B.Sc.) in Idstein. Zusätzlich gibt sie Fortbildungen für Therapeuten zur Elternberatung bei kindlichem Stottern.

Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt »Selbsthilfegruppenarbeit bei Aphasie zur Steigerung der Lebensqualität und Kompetenz (shalk)«. Sie promoviert zu dem Thema Lebensqualität bei Angehörigen von Menschen mit Aphasie.

Sie ist Mitglied in der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V.



Prof. Dr. med. Katrin Neumann
Flüssig sprechen – was lernen wir von ehemals Stotternden?

Prof. Katrin Neumann ist Fachärztin für Phoniatrieund Pädaudiologie (Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen) und für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Sie leitet die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie und das Cochlea-Implantat-Zentrum am HNOUniversitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich sowohl in ihrer Forschung als auch in ihrer klinischen Arbeit mit Stottern und Poltern. Sie initiierte und koordinierte die Erstellung der 2016 veröffentlichten Leitlinie zu Redeflussstörungen.



Prof. Harald A. Euler, Ph.D.
Die Kasseler Stottertherapie kritisch bewertet

Harald Euler, geb. 1943, hat seine Masterarbeit 1970 in den USA über Stottern geschrieben, war seit seinem 30. Lebensjahr Professor für Psychologie in Kassel (seit 2009 pensioniert und Gastprofessor Uni Wien), und hat seit 1995 die Kasseler Stottertherapie wissenschaftlich beraten. Er ist Autor bzw. Koautor von etwa 30 Publikationen zu Stottern und ist Koautor der medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinie »Redeflussstörungen«. Er vertritt leidenschaftlich evidenzbasierte Therapie und lehnt folglich meinungsbasierte (»Meine Erfahrung ist aber …«) und eminenzbasierte Ansätze (»Aber wie Freud schon richtig sagte,…«) ab.

Meine beabsichtigten Inhalte: Erkenntnisse dazu aus bislang fünf begutachteten Fachpublikationen (hirnfunktionelle Untersuchungen nicht einbezogen) über die Kasseler Stottertherapie (KST), die nach Urteil von Experten aus dem Land mit der besten Stotterforschung (Australien) für Jugendliche und Erwachsene weltweist die besten Evidenzen vorweisen kann, vor allem wegen der großen Stichproben von gut kontrollierten Untersuchungen. Dies wird auch in der Leitlinie »Redeflussstörungen« so gewürdigt. Die Erkenntnisse:

1. Flüssiges Sprechen ist erreichbar, aber nicht für alle. Etwa die Hälfte der Behandlungsteilnehmer profitieren sehr gut oder gut, ein Viertel profitiert mäßig, und ein letztes Viertel nur wenig oder gar nicht.

2. Es ist aber nur flüssiges Sprechen erreichbar, anscheinend keine echte »Heilung«. Nach der Pubertät können Stotternde nur zu flüssigen Sprechern werden. Sie können Ex-Stotterer werden, aber anscheinend nicht Nicht-Stotterer (wie auch richtige Raucher nur zu Ex-Rauchern, aber nicht zurück zu Nicht-Rauchern werden können). Die Gründe dafür (bei Stotternden und Rauchern) sind anscheinend genetischer Natur.

3. Wegen dieses genetischen Grundes sind Rückfälle nicht ausgeschlossen und bislang auch nicht vorhersagbar. Die Behandlungsergebnisse betreffen nur die Kompetenz (»Können«), nicht die Performanz (»Tun«), wie bei medizinischen Behandlungen üblich. Wer das Medikament nicht oder nicht länger einnimmt (hier: die Sprechtechnik bei Bedarf nicht anwendet), kann keinen Behandlungserfolg erwarten.

4. Die Behandlungserfolge der KST erstrecken sich nicht nur auf die Reduktion der Stotterhäufigkeiten, sondern in gleichem Maße auch auf die Erleichterung im Lebensalltag (Angstreduktion, Minderung von Kommunikationsvermeidung, Lebensqualität).